Mittwoch, 30. Dezember 2015
Ein echter Bösewicht
Beim wöchentlichen Autorentreffen gibt es diesen Typen, nennen wir ihn Jay, der wie aus einem Film entsprungen wirkt. Er ist ein bunter Charakter - und im Gegensatz zu mir, der ich mich gerne als Bösewicht brüskiere, hat er tatsächlich Qualitäten, die ihn zu einem formidablen Fiesling machen würden, wenn er bloß die Macht dazu hätte.

Jay ist 30, schwarz und obdachlos, aber er ist normal gekleidet und stinkt nicht. Er verdient Geld für Essen dadurch, dass er Socken und derlei Sachen in Bussen verkauft - das kann ja kaum sehr ertragreich sein. Jay hat aber einen großen Traum: Er möchte Drehbuchautor werden. Und so schreibt er fleißig seine Werke und kommt bei ausnahmslos jedem Autorentreffen.

Jay kann ja schreiben. Mit der Grammatik hat er es nicht ganz so, und er macht einige Anfängerfehler wie sehr expositionslastige Dialoge. Er beherrscht die wichtigsten strukturellen Grundzüge, und insbesondere beherrscht er Szenenstruktur.

Jay will Thriller schreiben, und er liebt sexy Action. Das Gute ist: Er kann ziemlich gut sexy Action schreiben. In keinem seiner Drehbücher, die wir bislang probelasen, dauerte es mehr als 5 Minuten, bevor die erste Glock gezückt wurde - und was er schreibt ist nicht nur spannend, sondern vor allem auch verdammt unterhaltsam - durch die überhöhte, aber originelle Gewalt fühlte ich mich schon mehrmals an Quentin Tarantino erinnert.

Aber leider ist Jay rassistisch (er sieht aber trotzdem alles in schwarz und weiß), anti-semitisch ("every year 'em Jews have to release a Holocaust movie") und vor allem höchst sexistisch - die Damen in unserer Runde schauen immer verletzt, wenn er ihnen andere Verständnisse seiner Texte zugesteht, und all seine weiblichen Figuren haben Doppel D Körbchengrößen.

Jay kann nicht verstehen, dass Menschen anderer Meinung sind als er. Er kann sich einfach überhaupt nicht in Menschen hineinversetzen, die nicht so sind wie er - ihm fehlt nicht Empathie, sondern das Vermögen, die individuellen Wünsche und Ängste anderer Menschen zu begreifen.

Das zeigte uns vor allem sein gestriges Skript: Die Protagonistin ist eine Prostituierte (Doppel D Körbchengröße, fickt in der Credit-Sequenz schon drei mal), die a la "Hostage" eine Geißel befreien muss - und das nicht (nur) durchs Beine spreitzen. Irgendwie klingt das pulpy, und ich erwarte mir ein großes Blutbad und eine spannende Geschichte.

Aber dann offenbart er innerhalb weniger Seiten, wie wenig Jay begreift, was Prostitution ist. In seiner Welt leben Prostituierten in einer WG und prahlen in der Früh damit, wer den geilsten Sex hatte. In seiner Welt ist eine Prostituierte noch geiler als die andere, und alle drei lieben ihren Beruf. Für Jay klingt Prostitution nach einem Schlaraffenland - Prostituierte müssen (im Gegensatz zu ihm selber, wie er zugibt) nicht für Sex zahlen, sondern kriegen für ihn gezahlt!

Jay ist 30. Er muss sein ganzes Leben in dieser Wolke der Ignoranz gelebt haben, und er wird sie wohl nicht mehr wegblasen können - unsere Kommentare stießen auf jeden Fall auf taube Ohren.

Aber ich bin sehr froh, dass er immer zu den Treffen kommt. Nicht nur, weil es immer ziemlich lustig ist, seine Bücher zu lesen - ich glaube, dass ich sowohl aus seinen Büchern als auch von seinem Charakter einiges über das Drehbuchschreiben lerne.

Vor allem erfahre ich ein ums andere mal von ihm, wie jemand seine eigene Version der Wirklichkeit konstruieren kann. Wie jemand mit so viel Ignoranz durch die Welt gehen kann, und was für Auswirkungen das haben kann. Wie jemand mit so viel Selbstverständlichkeit und Ignoranz auf den Gefühlen anderer Menschen herumtrampeln kann. Und wie er Kritik abblockt - häufig mit Argumenten, die überhaupt nichts damit zu tun haben, was man ihm erzählt.

Er ist eine traurige Figur, und nicht ganz harmlos (wie er wohl Frauen im Alltag behandeln muss...) - aber zum Glück sind ihm seine Schwächen fast wie ins Gesicht geschrieben. Er ist zu einfältig, um je eine große Karriere in Hollywood machen werden zu können - auch wenn er Talent hat. Und so werden seine fundamental falschen Ansichten bloß in seinem persönlichen Umfeld Schaden anrichten können.

Er wird darum nie zu einem Super villain weren können. Aber ich habe das Gefühl, dass ich durch das Beobachten seines Verhaltens erfahre, wie echte Bösewichte dazu kommen, nicht für das Gute zu kämpfen. Hätte Jay Geld und Anerkennung ("Macht"), würde ich mich vor ihm fürchten - so aber benütze ich ihn als Laborratte, deren Verhalten ich unethisch studiere.

Er ist der bösere von uns beiden, aber ich der klügere. Mal sehen, wer gewinnt, aber ich setze mein Geld auf mich.

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