Samstag, 26. Oktober 2019
Der Mitbewohner
Vor einigen Wochen bin ich umgezogen. Obwohl ich jetzt ganz gut verdiene (und eh nicht weiß, wohin mit dem ganzen Geld), habe ich mir eine ganz billige WG gesucht - 250 Euronen berappe ich da lediglich monatlich für die Unterkunft.

Einen Mitbewohner habe ich, den ich von der Wohnungsannounce ganz nett gefunden habe. Gleich alt wie ich, Programmierer - vielleicht sehr ähnlich wie ich? Bei der Wohnungsbesichtigung haben wir uns gut verstanden, und so hat er mich als seinen WG-Mitbewohner aufgenommen.

Sagen wir es mal so: die Honeymoon-Phase ist vorbei. Mein Mitbewohner ist ein Incel.

Das Wort verwende ich nicht so gerne, hat man mich doch auch schon mal als solcher bezeichnet. In der Tat erfülle ich einige der Merkmale von Incels - ich bin unfreiwillig keusch, bin bisschen ein Stubenhocker, bin vom Wesen her ein Mathematiker, bin Zyniker, und das Nicht-Gewollt-Werden von der Frau meiner Träume ist mein definierendes Charakter-Element.

Ich bin trotzdem davon überzeugt, kein Incel zu sein, weil ich glaube ich einigermaßen gut mit meiner Situation umgehe. Ich gebe nicht Frauen oder einer ungerechten Gesellschaft die Schuld, sondern suche die immerzu bei mir selbst. Ich versuche ständig, mich zu verbessern. Ich versuche das Leben locker zu nehmen. Ich bin mir meiner Privilegien in vielerlei Hinsicht bewusst. Und ich nehme mein Schicksal in meine eigenen Hände.

Nicht so mein Mitbewohner. Dem wurde vor eineinhalb Jahren das Herz gebrochen - seine erste Freundin ist nach einer 4monatigen Beziehung fremdgegangen. Seither ist er depressiv. Armer Kerl - aber andererseits ist er auch Architekt seines eigenen Untergangs. Im Gegensatz zu mir hat er dafür jedoch keinerlei Einsicht.

In seinem Liebeskummer hat er sich nämlich in jede Menge Liebeskummer-Ratgeber gestürzt. Und die gibt er mir jetzt immer wieder zum Besten. Nach seinem ersten längeren Vortrag hab ich mir mal die Wikipedia-Definition von Incel angeschaut - und dabei festgestellt, dass er aber auch gar keinen Aspekt auslässt, der als toxisch beschrieben wird.

Frauen sind hypergam. Die 80/20-Theorie. Ständig redet er von red pill und blue pill, und dass er jetzt endlich klar sieht, wie beta er sich damals verhalten habe. Frauen sind die Entscheidungsträger bei der Partnerwahl, und es ist ja so unfair, dass sich niemand für ihn interessiert (wahrscheinlich, weil die meisten Frauen so oberflächlich sind). Bei der Arbeit hat er immer super Ideen, aber niemand hört auf ihn - voll gemein von denen. Gleichberechtigung bei Frauen gibt es längst - Frauen sind selber Schuld für die Einkommensschere.

Er wird manchmal impulsiv wütend. Jeden Tag jammert er rum, wie sehr er sich eine Freundin wünscht, die für ihn da wäre. Er ist unordentlich, hat einen ordentlichen Buckel, ein ganz schönes Bäuchlein, ungesunde Haut und lebt ungesund - aber alles zu aufwendig, um es zu ändern. Dass ihn all diese Attribute unattraktiv machen, scheint er nicht zu begreifen. Vor allem das Jammern nervt mich.

Gestern hat er mir sogar erzählt, dass er mal mit einer Frau im Bett war, die ihm im Nachhinein vorgeworfen hat, es ausgenützt zu haben, wie betrunken sie war. Da haben bei mir alle Alarmglocken geschrillt. Ihm ist das aufgefallen, also hat er versucht mich zu beruhigen - sie haben davor stundenlang bei ihr zu Hause rumgemacht, er habe vorgeschlagen schlafen zu gehen, sie wollte Sex. Dass sie am nächsten Tag die Sache anders sah, machte sie für ihn zu einer verrückten Frau. Ich habe nur erwähnt, dass man das ernst nehmen muss, wenn eine Frau sich verletzt fühlt. Ich kenne nur seine Version der Geschichte, und ich gebe ihm den benefit of the doubt - so wie er es erklärt hat, sehe ich kein Verbrechen vorliegen. Trotzdem - es passt einfach zu gut in sein restliches Schema.

Ich werde nicht versuchen ihn zu läutern. Ich versuche schon, ihm ein paar positive Impulse zu geben - etwa, dass jede Frau selber entscheiden kann, wen sie vögeln möchte, und dass Frauen nicht nur triebgesteuert sind. Oder dass man lernen muss, seine Ideen auch gut zu präsentieren - und vielleicht sind auch seine Ideen nicht ganz so genial, wie er das selber glaubt. Oder dass man sich schon selbst verbessern sollte, wenn man sich bessere Chancen beim anderen Geschlecht geben will.

Manchmal gehen mir ein bisschen die Argumente aus, ich bin nur so semi-Feminist, wie die ganze nature-vs-nurture-Thematik jetzt wissenschaftlich tatsächlich aussieht weiß ich ehrlich gesagt nicht. Dass die Dating-Welt bei Männern und Frauen sehr unterschiedlich aussieht, das kann ich nicht leugnen. Und dass oberflächliche Eigenschaften schon auch wichtig sind für das Ringen um Aufmerksamkeit bei Frauen - das kann ich nicht abstreiten, und da muss ich mich selber ja erstmal auf Vordermann bringen. Aber wenigstens heul ich nicht ständig rum. Okay, ab und zu in meinem Tagebuch, aber ich finde ich tue es in gesunden Maßen.

Trotzdem werde ich mich mit meinem Mitbewohner abgeben. Da tritt meine mad-scientist-Seite meiner Persönlichkeit zu Tage: Ich will ihn studieren. Ich will sehen, wie sich seine Frauenfeindlichkeit auf subtile Weise immer wieder äußert, wie sie immer wieder aus ihm hervorbricht. Ich will schauen, wie ich sie eindämmen kann und wie es mir unmöglich ist. Ich will seine Sicht der Dinge besser verstehen lernen.

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