Samstag, 2. März 2019
Odyssey
8 Uhr. Eine langjährige Freundin schreibt mir, an was ich derzeit arbeite. Ich nenne ihr eine Serie. Sie fragt, ob ich mal was für sie schreiben kann. So süß und romantisch, hätte sie nicht seit 10 Jahren einen Freund und wären wir nicht schon seit 10,5 Jahren beste Freunde.

10-15 Uhr. Eine Mitschülerin, die klar gemacht hat, dass ich alles andere als ihr Typ bin, scherzt mit mir immer wieder, dass ich sie betrüge. Ich spiele mit. Diese Frotzeleien gehen schon seit Wochen und alle finden es ganz amüsant. Ich ja eigentlich eh auch. Aber es macht mir ein bisschen die Chancen mit den anderen süßen Mädels unserer Gruppe zunichte. Warum sieht man mich als so harmlos an, dass man mich so kategorisch ausschließt? Ich hab das Gefühl, ich erfülle die Rolle des stereotypen schwulen besten Kumpels - nur, dass ich nicht schwul bin. Aber so wenig Sexualität traut man mir scheinbar zu.

17 Uhr. Wir trinken seit Stunden, ich bin betrunken. Die Konversation steuert das Thema sexuelle Erfahrungen an. Ich fühle mich miserabel - ich kann kaum mitreden, nicht nur wegen dem Alkohol - ich bin sexuell so unerfahren. So ungeschickt. So schlecht. So schlecht auch im Flirten und Daten. Es ist Jahre her, dass ich eine Frau geküsst habe. Uff, das tut weh. Noch mehr Jahre, dass ich Sex hatte. Meine Enthaltsamkeit ist keine Entscheidung.
Das nagt an mir, will ich aber natürlich nicht groß breittreten. Also sage ich fast eine Stunde lang kein Sterbenswörtchen. Die anderen finden das komisch. Erst im Nachhinein denke ich mir: Hätte ich mich doch besser verhalten.

18 Uhr. Ich fahre mit der S-Bahn nach Hause. Ich weine, weil ich einsam bin. Meine Liebe ist unsterblich und es bringt mich langsam irgendwann um. Ich ärgere mich, dass ich trotz meines sehr privilegierten Lebens nicht überwinden kann. Ich frage mich, wann ich wohl Selbstmord begehen werde. Ich schätze so mit 45.

19 Uhr. Daheim. Meine neuen Mitbewohner fragen, ob ich mitgehe etwas trinken bei einem Kumpel. Eigentlich will ich mich einfach nur in meinem Zimmer verkrümeln. Aber ich hab mir geschworen nicht aufzugeben. Stets zu versuchen, keine Gelegenheit zu verpassen. Mir immer die Chance zu geben. Selbst wenn ich keine Lust habe - ich würde es immer bereuen, wenn ich nicht versucht hätte rauszufinden, was passieren wird. Lieber ein missglückter Abend als einer, den ich nie versucht habe.

22 Uhr. Ich lerne die Libelle kennen.
Ich sage ihr: In Sachen Melancholie, auf einer Skala von 0 bis 10, bin ich eine 7,5.

"Ich auch", sagt sie.

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